Beratung und Sexuelle Bildung sind seit fünf Jahrzehnten die Schwerpunkte von pro familia Lübeck. Doch die Beratungsstelle in der Hansestadt hat sich stetig weiterentwickelt, neue Angebote und Projekte initiiert, ausgerichtet nach den Bedürfnissen der Menschen. Und die Nachfrage stieg fast jährlich. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Pandemie hat sich 2020 die Zahl der Ratsuchenden nur geringfügig verringert. 1.202 Personen (Vorjahr 1.252) wandten sich mit Problemen und Fragen rund um Partnerschaft, Sexualität, Verhütung, Schwangerschaft und Familie an das pro familia-Team in der Fackenburger Allee 11. Weitere Details finden Sie im Jahresbericht 2020.

Beratung per Video etabiliert

„Der erste Lockdown war eine große Herausforderung. Weder wir Berater*innen noch die Klient*innen waren auf die Möglichkeit der Videoberatung eingestellt. Auch telefonische Beratungen wurden wenig in Anspruch genommen“, berichtet Anne Potthoff, Leiterin von pro familia Lübeck. Die pandemiebedingte Forcierung der Digitalisierung zeichnete sich auch in der Beratungsstelle ab. Nun, im 50. Jubiläumsjahr, ist die Beratung per Video etabliert. „Sie wird eine Ergänzung der bisherigen und weiterhin wichtigen face-to-face-Beratung bleiben“, betont die Dipl.-Sozialarbeiterin. Beratungen vor Ort sind aktuell möglich, selbstverständlich unter den vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen und Hygieneregeln, wie Maske, Abstand, Desinfektion. In jedem Fall wird um vorherige Anmeldung per Telefon oder E-Mail gebeten.

Selbstbestimmte Familienplanung

Angestiegen sind 2020 die nach §219 StGB vorgeschriebenen und zeitlich nicht aufschiebbaren Beratungen im Schwangerschaftskonflikt. Auch unter erschwerten Bedingungen konnte pro familia die gesetzliche Pflichtleistung aufrechterhalten. „Ungewollt Schwangere, die sich für einen Abbruch entscheiden, befinden sich zunehmend und noch verstärkt durch die Pandemie in einer schwierigen Situation“, kritisiert die Beraterin. „Auch in Lübeck beobachten wir, dass sich die Zahl der Ärzt*innen, die bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, verringert. Doch Schwangerschaftsabbrüche gehören zur medizinischen Grundversorgung.“ pro familia setzt sich zudem für eine Streichung aus dem Strafgesetzbuch und für eine Neuregelung des §219 ein.

Selbstbestimmte Familienplanung und somit der uneingeschränkte Zugang zu individuell verträglicher und sicherer Verhütung ist ein Menschenrecht. Auch 2021 stellt die Stadt dankenswerter Weise ein Budget für die Kostenübernahme ärztlich verordneter Verhütungsmittel bereit. Frauen ab 22 Jahren, mit Wohnsitz in Lübeck und Anspruch auf Sozialleistungen oder mit geringem Einkommen können bei pro familia oder den anderen vier Lübecker Schwangerenberatungsstellen einen Antrag stellen. pro familia setzt sich weiterhin mit Nachdruck für eine bundeseinheitliche und gesetzlich verankerte Hilfe zur Familienplanung ein. Handlungsbedarf zeigte deutlich das dreijährige Modellprojekt „biko – Beratung, Information und Kostenübernahme von Verhütung" des pro familia Bundesverbandes e.V., gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).“ Lübeck war einer von bundesweit sieben ausgewählten Standorten, der einzige im Norden der Republik.

Im Bereich der Sexuellen Bildung, bisher sehr nachgefragt, gab es 2020 einen deutlichen Einbruch um mehr als 40 Prozent. Aufgrund der Pandemie mussten vor allem im ersten Halbjahr alle Schulprojekte und Gruppenveranstaltungen ausfallen. Das sexualpädagogische Team hat 1.211 (Vorjahr 2.034) Kinder, Jugendliche, Eltern und pädagogische Fachkräfte in 93 Veranstaltungen (Vorjahr 178) erreicht.

Rückblick - Aufklärung in den 60er Jahren

Aufklärung und Prävention prägten die Arbeit von Beginn an. In den bewegten 1960ern, in einer Zeit tief greifenden gesellschaftlichen Wandels im Nachkriegsdeutschland, war es die „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“, die sich in Lübeck dieser Thematik annahm, vor allem Vorsteherin Dr. Theresia Priebe. Die Gynäkologin und Verantwortliche der Lübecker Mütterschule,  häufig mit den Folgen illegaler Schwangerschaftsabbrüche konfrontiert, setzte sich gemeinsam mit weiteren Vorstehern der GEMEINNÜTZIGEN für die Gründung einer Beratungsstelle für Familienplanung ein. Trotz erheblicher Widerstände konnte diese 1967 im Gesellschaftshaus in der Königstraße eröffnet werden - die erste ihrer Art in ganz Schleswig-Holstein. Dort erhielten Frauen Informationen über Verhütung und Rezepte für die zwar 1961 freigegebene, aber noch schwer zugängliche Pille.1971 übernahm der pro familia-Landesverband diese Beratungsstelle als seine dritte Einrichtung, die sich von 1973 bis 2000 im Haus der Lübecker Mütterschule befand.

Neue Angebote und Projekte

Nach Standorten in der Aegidienstraße und im Haus der Lübecker Nachrichten konnte die Beratungsstelle 2018 in barrierefreie Räumlichkeiten in der Fackenburger Allee einziehen. War doch schon seit Jahren die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ein wachsender Schwerpunkt. „Unser Beratungsangebot sowie Veranstaltungen zu sexueller Bildung sollen uneingeschränkt allen Menschen zugänglich sein“, betont Potthoff. Auch die seit 18 Jahren bestehende Gruppe „Herz ist Trumpf“ für Menschen mit Behinderung hat hier ihren Treffpunkt. Das offene Angebot überstützt 14-tägig Frauen und Männer mit Behinderung aus verschiedenen Einrichtungen und unterschiedlichen Wohn- und Lebenszusammenhängen bei Fragen zur Lebensgestaltung, Partnerschaft, Sexualität und Familienplanung.

Ebenso in der Beratungsstelle verankert ist das 2017 gestartete und von der Aktion Mensch geförderte landesweite Kooperationsprojekt „Tandem-Teams - für inklusive sexuelle Bildung“ von pro familia Schleswig-Holstein und der Lebenshilfe Schleswig-Holstein. Es besteht aus einer Fachkraft der Sexuellen Bildung und einem Menschen mit Behinderung als Expert*in für die eigene Lebenswelt. Die Veranstaltungen werden von Menschen mit Behinderung sowie Fachkräften der Behindertenhilfe, Eltern und Multiplikator*innen sehr gut angenommen. Ziel ist u.a. der Abbau von Barrieren und die Verwirklichung der Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Auch in diesem Bereich wurde 2020 die Digitalisierung erprobt. Konnten 2019 in 40 Veranstaltungen 337 Menschen mit Behinderung und 297 Multiplikator*innen erreicht werden, gab es 2020 zwei Vorträge in digitaler Form zum Bundesteilhabegesetz und zu Hilfen im Fall von sexualisierter Gewalt.

Ein Novum für pro familia war 2016 die Veröffentlichung des Liebesromans „Jule und Hannes“ für Menschen mit Behinderung von Rosemarie Krohn. Illustrationen von Heike Wiechmann erleichtern das Verständnis. "Jule und Hannes" ist auch für Migrant*innen und für Analphabet*innen geeignet. Die Liebesgeschichte in Leichter Sprache ist jetzt auch als Video verfügbar. Mehr dazu unter: www.profamilia.de/juleundhannes

Eine weitere Besonderheit der Beratungsstelle war 2007 die Entwicklung einer Aufklärungsbroschüre speziell für Jungen. „Der kleine Kumpel packt aus! - Nackte Tatsachen für Jungs“ informiert mit der Comicfigur „Der kleine Kumpel“ Jungen zwischen 10 und 16 Jahren in einfacher Sprache, ausführlich und doch verständlich, zu körperlichen Veränderungen in der Pubertät, zu Verhütung ungewollter Vaterschaft und HIV/Aids. Längst ist sie ein Renner geworden. Über 20.000 Hefte sind deutschlandweit und ins deutschsprachige Ausland verschickt worden – ein deutliches Zeichen, dass ein großer Bedarf an geeigneter Information für diese Zielgruppe besteht. Die Broschüre ist mittlerweile in neunter Auflage erschienen und kann bestellt werden unter: www.jungenbroschuere.de

„Dass derartige Projekte realisiert werden können, ist der breiten Unterstützung der Menschen in der Hansestadt zu verdanken“, würdigt die Leiterin Anne Potthoff. Wie schon in den Anfängen engagieren sich Bürger*innen auch heute als Einzelpersonen, in Stiftungen und Verbänden sowie in politischen Gremien für Aufklärung und Sexuelle Bildung. „Ihnen allen sowie der Lübecker Bürgerschaft sagen wir ein herzliches Dankeschön, ebenso dem „Förderverein pro familia Lübeck e.V.“, der seit 2006 die Präventionsarbeit ideell und finanziell unterstützt und sich um die Einwerbung von Spenden kümmert.“

Weitere Informationen und Terminvereinbarung:pro familia Lübeck