Für eine Regelung im Einklang mit den Menschenrechten!
Das derzeitige Gesetz und die Praxis zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland stehen auf dem Prüfstand. Wie andere Fachverbände stellt sich pro familia der Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine gesetzliche Neuregelung aussehen könnte. Auf der Bundesdelegiertenversammlung 2023 haben die Delegierten die „pro familia Positionierung und Forderungen zur menschenrechtsbasierten Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs – Für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ verabschiedet. Fünf Fragen und Antworten erläutern die Positionierung.
5 Fragen zur pro familia Positionierung
Das bisherige Recht ignoriert die sexuellen und reproduktiven Rechte. Menschen, die schwanger werden können, müssen frei über das Austragen oder den Abbruch einer Schwangerschaft entscheiden können. Das ist bei der bisherigen Regelung mit Pflichtberatung, Wartezeit und im Dunstkreis des Strafgesetzbuchs nicht der Fall. Die Gesellschaft, die Politik und das Gesetz müssen anerkennen, dass die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch eine sehr individuelle ist, die den eigenen Körper und das eigene Leben betrifft, gegebenenfalls auch die bereits existierende Familie und Partnerschaft. Dies muss sich in einer neuen gesetzlichen Regelung außerhalb des Strafrechts ausdrücken.
Die Folgen sind Stigmatisierung des Schwangerschaftsabbruchs und aller Personen, die damit zu tun haben. Ungewollt Schwangere fühlen sich gegängelt und sehen sich einem hohen moralischen Druck ausgesetzt. Dabei brauchen sie in jedem Fall eine Unterstützung und eine medizinische Behandlung ohne Moralisierung und Verurteilung, sowie auf Wunsch eine psychosoziale Beratung.
Wir beobachten zudem seit Jahren, dass sich die Versorgungslage verschlechtert, weil Ärzt*innen nicht im Dunstkreis des Strafrechts arbeiten wollen. Ärzt*innen fürchten Ablehnung, Stigmatisierung und öffentlichkeitswirksame Aktionen von Gegner*innen reproduktiver Selbstbestimmung. Diese nutzen die Tatsache, dass der Schwangerschaftsabbruch im Strafgesetzbuch geregelt wird, aus, um mit persönlichen Anfeindungen, Demonstrationen und Belagerungen von Praxen und Beratungsstellen psychischen Druck auf Schwangere, Ärzt*innen und Berater*innen auszuüben. Deshalb brauchen wir eine Regelung außerhalb des Strafrechts.
Im Zentrum muss stehen, dass niemand zum Austragen oder zum Abbruch einer Schwangerschaft gezwungen werden darf. Der Schwangerschaftsabbruch gegen den Willen oder ohne die Zustimmung der schwangeren Person muss weiterhin strafrechtlich sanktioniert sein. Der Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch der schwangeren Person hingegen darf keine Straftat sein.
Die Pflichtberatung und die Wartezeit vor einem Schwangerschaftsabbruch müssen entfallen. Sie sind unnötigen Hürden, die den Zugang zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch einschränken. Die Weltgesundheitsorganisation WHO und die Frauenrechtskonvention CEDAW beurteilen solche Hürden kritisch und fordern deren Abschaffung.
Eine weitere Forderung ist, dass die Kosten für Schwangerschaftsabbrüche durch die Krankenversicherung erstattet werden müssen.
Beratung und Informationen helfen Menschen dabei, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und ihr Leben zu planen. Jeder hat das Recht auf Information, auch im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Daher setzt sich pro familia dafür ein, dass ein gesetzlicher Anspruch auf individuelle Information, Beratung und sexuelle Bildung verankert wird.
Diese Angebote sollen für alle leicht zugänglich sein, ohne Barrieren und kostenlos. Jeder Mensch, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Beeinträchtigung, sozialem Status, Religion, Weltanschauung, Alter, Gesundheitszustand oder sexueller Orientierung, soll Zugang haben.
Die Themenbereiche der sexuellen und reproduktiven Gesundheit sollen umfassend abgedeckt werden. Dazu gehören Angebote zur sexuellen Bildung, Familienplanung, Schwangerschaftsberatung, Verhütungsberatung, Unterstützung bei ungeplanter/ungewollter Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch, Partnerschaft, Sexualität, unerfüllter Kinderwunsch und Reproduktionsmedizin, Pränataldiagnostik, sexuelle und geschlechtliche Identität, Sexualität und Behinderung, jugendfreundliche Angebote, Vertrauliche Geburt sowie Beratung für Eltern und Erziehende sowie der Schutz vor (sexualisierter) Gewalt.
Um diese Angebote zu gewährleisten, müssen sie ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen erhalten. Zudem sollen Kriterien wie Nähe zum Wohnort, Pluralität, Mindeststellenschlüssel und Qualitätsanforderungen für diese Angebote gelten.
Für den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch nach der 12. Woche müssen Ärzt*innen eine medizinische Indikation ausstellen. Sie müssen feststellen, dass nach ihrer Erkenntnis ein Schwangerschaftsabbruch „unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren“ empfehlenswert ist, „um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“
In der Praxis erleben Schwangere, dass es schwierig ist, einen Arzt oder eine Ärztin zu finden, die ihnen das Vorliegen dieser Umstände bescheinigt. Die geltende medizinische Indikation wird oft eng ausgelegt. Ärzt*innen stellen eine medizinische Indikation bei einem auffälligen pränatalen Befund und ggf. bei einem körperlichen Befund der schwangeren Person aus, aber sehr selten bei psychischen oder psychiatrischen Erkrankungen der Schwangeren.
Als noch schwieriger erleben es Schwangere, eine Klinik zu finden: Nur sehr wenige Krankenhäuser in Deutschland ermöglichen den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch im zweiten und insbesondere im dritten Schwangerschaftsdrittel. Eigentlich müsste die Versorgung als Teil einer umfassenden, qualitativ hochwertigen reproduktiven Gesundheitsversorgung geplant werden. Unter der derzeit geltenden gesetzlichen Regelung im Strafrecht findet eine solche Planung jedoch nicht statt.
Factsheet zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs
Im Kontext eines gemeinsamen Workshops, den die Bundesverbände von AWO, pro familia und Deutscher Juristinnenbund e.V. am 12. Juni 2023 durchführten, entstand ein Factsheet zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Darin wird das Thema aus verschiedenen Perspektiven analysiert:
- Völkerrechtliche Perspektive: Die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch wird heutzutage im Kontext sogenannter reproduktiver Rechte verortet. Deshalb muss eine Reform das Völkerrecht miteinbeziehen.
- Verfassungsrechtliche Perspektive: Die verfassungsrechtliche Perspektive auf die Neuregelung der §§ 218 ff. StGB bewegt sich vor allem im Spannungsfeld zwischen einer embryozentrierten Perspektive (wie u.a. die des Bundesverfassungsgerichts in den Entscheidungen von 1975 und 1993) und einer freiheitsrechtsbasierten Perspektive. Zwei Fragen stehen sich gewissermaßen gegenüber: „Können die Grundrechte der Schwangeren das Lebensrecht des Embryos einschränken?“ und „Lässt sich ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs mit dem Schutz des Embryos rechtfertigen?“.
- Strafrechtliche Perspektive: Das gewichtigste Argument gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist, dass sie nicht zum Schutz des ungeborenen Lebens beiträgt. Die Kriminalisierung verhindert Schwangerschaftsabbrüchen nicht oder nur bedingt: kriminalisierte Schwangerschaftsabbrüche werden weiterhin durchgeführt, lediglich unter unsicheren Bedingungen. Außerdem gibt es keine Hinweise auf vermehrte Spätabbrüche nach Entkriminalisierung. Gleichzeitig führt die derzeitige Regelung zu einer erheblichen Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Daher stellt sich die Frage, ob die Regelung im Strafrecht als ultima ratio hier zum Einsatz kommen darf.
- Sozialrechtliche Perspektive: In Bezug auf eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs kann oder sollte das Sozialrecht vier Punkte regeln: die Beratungsinfrastruktur, eine Kostenübernahme, die Versorgungssicherheit sowie ein ärztliches Weigerungsrecht.
Das Factsheet ist hier abrufbar (pdf, nicht barrierefrei).
Wie steht die Bevölkerung zum Thema Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs?
Eine Meinungsumfrage von Ipsos im Auftrag des Bündnisses für sexuelle Selbstbestimmung von Dezember 2022 kommt zu folgendem Ergebnis:
- 55 Prozent der Befragten sprechen sich für eine Streichung des §218 StGB aus.
- Weitere 28 Prozent stimmen einer Entkriminalisierung unter bestimmten Bedingungen zu.
- Insgesamt befürworten also 83 Prozent die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs.
- Nur eine Minderheit von 9 Prozent möchte Abtreibungen weiterhin als Straftat im Strafgesetzbuch sehen. 10 Prozent machen keine Angaben oder wissen es nicht.
Das ZDF berichtet von einer Umfrage der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, die zu einem anderen Ergebnis kommt. Danach seien 54 Prozent der Befragten dafür, dass der §218 StGB weiter gelten solle. Allerdings gab es als alternative Antwortmöglichkeiten nur, dass der Schwangerschaftsabbruch generell und ohne Einschränkungen erlaubt sein solle oder dass die aktuelle Regelung verschärft werden sollte. Den Paragrafen 218 durch eine alternative Regelung zu ersetzen, wurde nicht als Antwortmöglichkeit angeboten. Das heißt: Vor die Wahl gestellt zwischen völliger Freigabe und Beibehaltung der bisherigen Regelung, tendieren mehr Menschen zur Antwortmöglichkeit „Der Paragraf 218 sollte weiter gelten“. Immerhin noch 36 Prozent sprechen sich für die Abschaffung jeglicher Regelung aus, bei der Altersgruppe der Frauen unter 35 Jahren sind es sogar 50 Prozent.
Christ*innen sind gegen die ablehnende Haltung von Papst und Kirche, laut repräsentativer Umfrage der katholischen „Tagespost“. Die Zeitung hatte um eine Stellungnahme zu der Aussage gebeten: „Es ist gut, dass sich der Papst und Kirche gegen Abtreibungen aussprechen.“ 63 Prozent der Befragten lehnten diese Aussage ab. Selbst 58 Prozent der Katholiken lehnten die Aussage ab, bei den Protestanten waren es 67 Prozent.
Bericht der German Alliance for Choice (GAfC) an den CEDAW-Ausschuss in deutscher Übersetzung
pro familia unterstützt den Bericht der German Alliance for Choice (GAfC) an den CEDAW-Ausschuss. Der Bericht untersucht Verstöße gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) und plädiert dafür, dass auch Deutschland endlich die Vorgaben von CEDAW im Bereich sexueller und reproduktiver Rechte umsetzt. Ein zentraler Teil ist die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.
Der Bericht ergänzt die Berichte der Deutschen CEDAW-Allianz und des Deutschen Juristinnenbundes (djb) und liegt nun in deutscher Übersetzung vor.
„Die Verweigerung von Informationen und Dienstleistungen zum Schwangerschaftsabbruch beeinträchtigt das Leben und die Gesundheit von Frauen* zutiefst und behindert die Umsetzung oder Verwirklichung einer Reihe von bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Da der Schwangerschaftsabbruch eine medizinische Dienstleistung ist, die nur Frauen* benötigen, ist der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch eine Voraussetzung für die Gewährleistung von Geschlechtergerechtigkeit.“ heißt es im Bericht.
Insbesondere wird der §219a, der Ärzt*innen verbietet, über den von ihnen angebotenen Schwangerschaftsabbruch zu informieren als Verstoß gegen Menschenrechtsstandards und die Richtlinien der WHO gewertet. Kritisiert wird außerdem, dass die Länder zwar für die Sicherstellung der Versorgung beim Schwangerschaftsabbruch zuständig ist, es aber kein Monitoring-System gebe, das dokumentiere, ob und wie sie dies tun. Das Bundesgesundheitsministerium habe noch keine Maßnahmen zur Verbesserung der prekären medizinischen Unterversorgung beim Schwangerschaftsabbruch in mehreren Regionen getroffen.
Der Bericht enthält außerdem Vorschläge für einen Fragenkatalog, mit dem der CEDAW-Ausschuss den jeweiligen Regierungen, in diesem Fall der Bundesregierung, vorgibt, auf welche Punkte sie in ihrem nächsten Staatenbericht an den CEDAW-Ausschuss antworten bzw. eingehen müssen.
Der Bericht der German Alliance for Choice (GAfC) als PDF-Dokument
Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: Zahlen, Fakten, Hintergründe
Über absolute und relative Zahlen des Statistischen Bundesamts und was sie aussagen. Artikel aus dem pro familia magazin 3/2023.
Download als PDF-Dokument
44-seitige pro familia Publikation zu den Themen: Rechtliche und politische Entwicklungen; Gründe, Motive und Verarbeitung des Schwangerschaftsabbruchs; Aspekte der medizinischen Versorgung; Pflichtberatung zwischen Gesetzesauftrag und professionellem Anspruch. Im Anhang ist das pro familia Positionspapier zum Schwangerschaftsabbruch zu finden. Download als pdf-Dokument
Pressemitteilung German Alliance for Choice vom 30.5.23
In seinen heute veröffentlichten Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Frauenrechtskonvention an die deutsche Regierung zeigt sich der UN-Frauenrechtsausschuss (CEDAW) besorgt angesichts der Abnahme von und regionalen Unterschieden in der Anzahl von Ärzt*innen, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Er ruft die deutsche Regierung auf, den Schwangerschaftsabbruch zu entkriminalisieren und Zugang sicherzustellen.
Die Pressemitteilung der German Alliance for Choice zur Veröffentlichung der Empfehlungen vom 30.5.23 als PDF.
Direkt zu den Empfehlungen des CEDAW (Doc, englisch)